Neue Rechtschreibung

Was ich über die Rechtschreibreform denke lässt sich mutatis mutandis aus einem Bericht über die berühmte portugiesische Volkstanzreform entnehmen, den ich bereits im Sommer 1997 auf Madeira verfasst habe. Einige der neuen Rechtschreibregeln befolge ich, wenn auch zähneknirschend. Man sehe mir aber bitte nach, dass ich es nicht übers Herz bringe, etwa „Rauhreif“ ohne „h“ zu schreiben.

Noch im vergangenen Jahr hatten wir im kleinen, abgelegenen Dorf Prazeres, in dessen Nähe wir auch heuer unseren Urlaub verbringen, beim sommerlichen Kirchweihfest Gelegenheit, die ursprüngliche Kraft und die Lebendigkeit des hiesigen Volkstanzes zu beobachten. Um so größer war unsere Überraschung, als wir am gestrigen Samstagabend ahnungslos wieder auf den mit allerlei Fahnen und Birkenbäumchen und Blumen geschmückten Kirchplatz traten. Das Hochamt war längst vorüber, die Kirchtüren geöffnet, schon mischte sich der Duft gerösteter Fleischspieße mit den verwehenden Weihrauchschwaden. Der Tanz hatte zwar begonnen, aber anders als im Vorjahr war die Zahl der eigentlichen Tänzer weit geringer als die der Schaulustigen, die im Schatten der Kirchhofmauer und bei den Getränkebuden herumlungerten und die von bunten, katholischen Lichterketten erhellte Szene beobachteten. Und auch unter den Tänzern waren es nur die jungen Erwachsenen und die Älteren, die noch so strotzend herumsprangen, wie wir es im Vorjahr gesehen hatten.

Die Kinder und Jugendlichen dagegen verhielten sich mehr als merkwürdig: Im Rhythmus der jetzt, am frühen Abend, gerade erst langsam in Gang und Schwung kommenden Musik steckten sie bald beide Zeigefinger in ihre Ohren, bald rissen sie die Köpfe fast wie beim militärischen Augenrechtskommando nach rechts, dann wieder hielten sie mit gerunzelter Stirn inne, als ob sie nachdächten, und nun bückten sie sich weit nach vorn, um schließlich wieder die Zeigefinger in ihre Ohren zu führen. Ein angestrengtes, marionetten-, ja maschinenhaftes Zucken und Wackeln ohne Anmut, ohne Geschmeidigkeit und ohne den Charme früherer Tänze. Wir sahen einander entgeistert an. Was, umhimmelswillen, war hier geschehen?

Zwei Stunden später, nach angeregtem Gespräch mit einem freundlichen, älteren, englischsprechenden Portugiesen, wussten wir Bescheid: Unbemerkt vom übrigen Europa ist über Portugal im Laufe der letzten zwölf Monate eine sogenannte Volkstanzreform hinweggegangen. Eigentlich, so unser Gewährsmann nach den ersten beiden Gläsern roten Landweins, habe alles damit angefangen, dass schon vor längerer Zeit ein von der Oper in Lissabon fristlos entlassener Solotänzer – wohl aus Verbitterung über sein künstlerisches Scheitern – ein angeblich tanzpädagogisches Buch mit dem erstaunlichen Titel „Tanzen durch Tapsen“ publiziert habe. Dort, so der Gewährsmann kopfschüttelnd, habe er die hanebüchene These vertreten, Kinder lernten das Tanzen am besten gerade dann, wenn man sie eben nicht tanzen lehre: Im spontanen kindlichen Hampeln, Schrankeln, Albern, Straucheln und eben Tapsen liege weit mehr Kreativität und Kunst, als die repressive Kulturtradition zuzugeben bereit sei; man solle die Kinder halt tapsen und also durch Tapsen das Tanzen lernen lassen. Anderenfalls zerstöre man das zarte Pflänzchen ihrer Bewegungsmotivation. Aha, dachten wir bei uns. Aa-ha.

Trotz der Proteste verschiedener Fachleute habe dieses unsägliche Buch, so unser Gewährsmann bitter, binnen nur dreier Monate die tanzpädagogische Szene erobert. Das sei allerdings kein Wunder, denn das Verhältnis der meisten modernen portugiesischen Pädagogen zur Tanzkultur ähnele dem, das Steineschlepper zu ihren Steinen hätten: Je weniger und je leichter, um so besser! Während aber die Steineschlepper ihre mehr als verständliche Vorliebe für kleine und leichte Traglasten kaum je mit irgendeinem angeblichen Mitgefühl für die zu errichtenden Bauten zu rechtfertigen vermöchten, sei es den Pädagogen ein leichtes, der bisweilen etwas denkschwachen Öffentlichkeit ihre eigene Unfähigkeit und Lehrfaulheit in eitel Menschenliebe und Kinderfreundlichkeit umzulügen.

Die Folgen könnten wir in jeder Tanzschule und in jedem Volkstanzkreis beobachten, ja, wenn wir uns demnächst ein wenig draußen unter die Schulfenster stellten, durch bloßes Zuhören mitbekommen: Tadel und Korrektur seien verpönt, eigentlich werde dort nur noch gelobt. Lehrer und Lehrerinnen, Volkstanzkreisleiter und Volkstanzkreisleiterinnen, ja sogar einzelne verblendete Elternpaare begleiteten landauf, landab inzwischen jedes Zucken und jedes Schlurfen, jedes Zappeln und Hopsen ihrer kleinen Zöglinge mit kreativitätsseligen Jauchzern und Lobesschreien; mehr und mehr gingen die Lehrer sogar dazu über, die Bewegungen der Kinder und Jugendlichen nachzuahmen und, so unser Gewährsmann, in solcher „action“ ihre „satisfaction“ zu finden.

Kurz: Zwar lerne kein Mensch mehr etwas Vernünftiges, aber alle seien sehr, sehr kreativ: so schöpferisch, dass man diesen immer mehr um sich greifenden Unfug inzwischen nicht mehr einfach Tanzunterricht, sondern allen Ernstes Bewegungsverhaltenserwerb nenne, der dann in eigens gegründeten Bewegungsverhaltenserwerbswerkstätten mit Stolperdrähten, Humpelparcours, Kuschelecken und Schmierseifenbahnen stattfinde. „Toll!“ stießen wir angesichts dieser pädagogischen Prachtwörter beeindruckt hervor.

Inzwischen strebte das Fest seinem Höhepunkt zu: Der Rotwein floss in Strömen. Immer mehr Zuschauer scharten sich um die Tänzer – um jene wirklichen Tänzer, die das Tanzen noch nicht durch „Tapsen“ gelernt hatten und also die Umstehenden und vor allem sich selbst noch zu begeistern vermochten. Etwas abseits, nahe am Ausgang des Kirchenvorplatzes unter einigen Eukalyptusbäumen hielten sich die Kinder und Jugendlichen auf: Selbst die schrillen Anfeuerungsrufe der jungen, offensichtlich von der Welle des Bewegungsverhaltenserwerbs ganz und gar mitgerissenen Dorflehrerin konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Trübsinn und schale Ödnis herrschten: Finger in die Ohren, die Augen links, Augen rechts, Nachdenken, Bücken, Finger in die Ohren, Hand vor den Mund. Stotternder Maschinentakt. Grässlich. Uns taten die armen Kleinen leid. Einige grinsten verlegen, andere desertierten aus ihrer Reformtanzgruppe, um später irgendwo bei den nichtreformierten Erwachsenen aufzutauchen und dort fröhlich mitzutanzen.

„Noch ein Gläschen?“ fragte unser Freund. Die Sache mit dem Bewegungsverhaltenserwerb sei nämlich erst der Anfang gewesen. Bald danach habe eine Gruppe von eher mittelmäßigen Tänzern und Choreographen eine regelrechte Volkstanzreform vorgeschlagen. Ihr Argument: Die bisherigen Tänze seien zu schwierig, sie benachteiligten die Unbegabten; wer Gerechtigkeit wolle, der müsse die Tänze derart vereinfachen, dass jeder, aber auch wirklich jeder nach einfachen Regeln tanzen lernen könne. Wieder seien Proteste, der traditionelle Volkstanz habe vielleicht hier und da doch auch seinen guten Sinn und seinen erotischen Reiz, ungehört verhallt, wenn nicht gar mit dem Knüppelargument niedergeschlagen worden, wer an den alten Tänzen festhalte, sei ein korrupter Freund der professionellen Tänzer und folglich ein vor sozialer Kälte geradezu schlotternder Feind der motorisch Benachteiligten, ja der Kinder überhaupt. Tradition hin, Tradition her, eine moderne Zeit brauche moderne Tänze und also eine Volkstanzreform.

Unser Informant streckte den Arm aus: Das Ergebnis dieser unsäglichen Reform könnten wir gleich da drüben unter den Eukalyptusbäumen in Augenschein nehmen. Ob wir, so unser portugiesischer Freund weiter, eigentlich die sogenannten Maobibeln schon gesehen hätten? Wirklich waren uns bereits am Nachmittag verschiedene fliegende Händler aufgefallen, die kleine Büchlein mit Aufschriften und Aufklebern „NUEVO!“ feilboten und allem Anschein nach selbst bei ansonsten durchaus vernünftig wirkenden Erwachsenen ein gutes Geschäft machten. Wir hatten dem allerdings keine besondere Beachtung geschenkt. Das seien, erregte sich unser Freund, die Bewegungslisten und Regelbücher, nach denen nun die Kleinsten auf Anordnung des allerdings in der Tat korrupten Bildungsministers tanzen lernen müssten: Da hätten jene lendenlahmen und deshalb zu Professoren umgeschulten Choreographen, gestrauchelten Nurejews und alternden Primaballerinen der zweiten Garnitur die neuen Tanzregeln zusammengestellt; da könne man nachlesen, welche Bewegung mit welcher Wahrscheinlichkeit auf welche Bewegung folge, und – so behaupteten die Reformer – durch bloßes Nachdenken zum guten Tänzer werden. Allerdings gebe es da – wie nicht anders zu erwarten – haarsträubende Unstimmigkeiten. Einige dieser Bücher legten fest, die Finger seien vor dem Bücken in die Ohren zu stecken; andere forderten zunächst Bücken und Kopfschwenken und dann erst das Ohrenverstopfen. Was denn nun?

Das Chaos sei inzwischen perfekt: Machtgierige Bildungspolitiker schmeichelten ihrer überwiegend aus – im beschriebenen Sinne: kinderfreundlichen Lehrern zusammengesetzten Wählerschaft, indem sie das neue Ge­hampel ohne jede Rücksicht auf demokratische Spielregeln in den Schulen verpflichtend machten; aber auch besonnenere Lehrer erwögen, sich der neuen Welle anzupassen, um die Kinder vor heilloser Verwirrung zu bewahren; eifernde Feministinnen, denen das überlieferte Schultergegrapsche und Beckengewalke und Hüftengeschwenke schon lange suspekt gewesen sei, setzten sich glühend für die neuen, wenn auch sterilen, so doch politisch knochenkorrekten Bewegungsverhaltensformen ein; die erwähnten Tanzprofessoren arbeiteten in Forschungsprojekten an neuen, akribischen Bewegungslisten und Stolperkatalogen und bereiteten auf diese Weise ihre wissenschaftliche Unsterblichkeit vor; in ihrem Auftrag seien Scharen von studentischen Hilfskräften damit beschäftigt, Zeigefingerkuppen und Gehörgänge zahlloser Schulkinder zu vermessen, um angeblich bedeutende tanzpädagogische Passformvoraussagen wissenschaftlich zu untermauern; selbst der alte Pfarrer von Prazeres habe, so unser Gewährsmann, bereits überlegt, ob er beim feierlichen sakramentalen Segen am Schluss des Hochamtes nicht zum Wohle der in den Kinderbänken versammelten Schüler die Finger in die Ohren stecken solle; der geistliche Herr habe diesen Gedanken nur deshalb verworfen, weil er nicht gewusst habe, wie er dann die Monstranz hätte halten sollen; schließlich munkele man, sogar Michael Jackson habe für sein nächstes Tourneekonzert in Lissabon die Auflage erhalten, die Finger statt an seinen Hosenlatz unbedingt und ausschließlich in die Ohren zu führen. Das Chaos also, inzwischen waren wir beim fünften Glas, sei perfekt. Auch von einer neulich gegründeten Oberkommission, welche sozusagen die Volkstanzreform reformieren, Unstimmigkeiten beseitigen und zum Wohle der niedergelassenen und der fliegenden Händler neue Regelheftchen („SUPERNUEVO!“) ausarbeiten solle, sei kaum Rettung zu erwarten.

Der Abend wurde dann aber trotzdem noch sehr nett.