Zaubersprüche

Meine kleinen Texte enthalten neben vielerlei möglicherweise allgemein Interessantem und Akzeptablem am Rande immer wieder auch politisch Unkorrektes: Boshaftes und Ätzendes über mich selbst, über den Menschen und über den sogenannten Fortschritt; dazu Formulierungen, Bilder und Skizzen, die man je nach dem angelegten Maßstab als erotisch, pornographisch, zotig, primitiv, provozierend oder zumindest als überflüssig einstufen könnte. Ich habe mir häufig überlegt, ob ich Selbstzensur üben und diese Passagen streichen sollte, mich dann aber dagegen entschieden: Ohne diese Sätze und Bilder wären das nicht mehr meine Texte.

Ich habe noch einmal einige Nummern der französischen satirischen Zeitschrift „Harakiri“ aus der ersten Hälfte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts und einige Cartoon-Bände der satirischen Zeichner Reiser, Wolinski, Willem und Cabu durchgeblättert, die mir bis heute großes Vergnügen bereiten. „Harakiri“ präsentierte sich damals als „journal bête et méchant“; Reiser und Wolinski publizierten ihre Cartoons in einer „serie bête et méchante“. Dieser Gruppe von Satirikern war nichts heilig: Sie machten sich mit ätzender Schärfe über Werbung und Politik, über Sexualität und Religion, über Männer, Frauen und Kinder, über Flugzeugabstürze und den Vietnamkrieg lustig. So etwas ist in unseren politisch korrekten Zeiten inzwischen undenkbar.

Ich habe den Eindruck, dass diese „böse“ Satire, die damals eine Entzauberungssatire war, im Laufe der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts weitgehend verschwunden ist. Jene Entzauberungssatire verdampfte alte und neue Mythen unter dem grellen Scheinwerfer ätzender Rationalität und bitteren Gelächters. Ihre Kennzeichen waren Radikalität, schonungslose Rundumschläge, respektloses Kichern vor Heiligen und Autoritäten, dröhnendes Lachen und ein trotzig-spielerischer Umgang mit dem allzu Schönen und mit dem Grauenhaften in dieser Welt. Sie wurde damals abgelöst durch eine Satire, die sich der Wiederverzauberung der Welt verschrieben hat. Wo die Entzauberungssatire Tabus einriss, sich unterschiedslos lustig machte, wo sie alle Begriffe und Normen verzweifelt und bissig, aber vor dem Hintergrund eines überlieferten und damals durchaus noch lebendigen und zugleich bescheidenen guten Willens zertrümmerte, stellt ihre Nachfolgerin sich wieder fromm in den Dienst politischer, sozialer oder religiöser Kulte; sie ist bemüht, die ihr unerträgliche Entzauberung der Welt rückgängig zu machen; und sie zieht gegen jene zu Felde, die ihren jeweiligen Glauben nicht teilen. Pointiert und paradox könnte man diese Wiederverzauberungssatire als die latent fundamentalistische Satire derjenigen bezeichnen, die alles in Frage stellen – nur nicht ihre eigenen ideologischen Voraussetzungen, seien diese nun rot, schwarz, grün, gelb, lila oder bunt.

Nun sind die letzten Jahrzehnte durchaus nicht nur durch solche Frömmigkeit gekennzeichnet: Man findet auch heute noch in mancherlei Subkulturen und in den entsprechenden Medien so ziemlich jede nur vorstellbare Bosheit und Respektlosigkeit. Doch das meiste dort ist platt, brutal oder – im schlechtesten Sinne dieses Wortes – in der Tat pornographisch; zudem handelt es sich nur selten um wirklichen Humor und gewiss nicht um Satire.

Die „Harakiri“-Autoren dagegen waren in ihren Texten und Zeichnungen zwar boshaft, sexbesessen, provozierend und bisweilen bis an die Grenze des Erträglichen zynisch, aber sie waren alles andere als dumm und amoralisch. Sie scheinen mir im Gegenteil einer Generation von Intellektuellen anzugehören, die sich von einem übereifrigen und überernsten Denken und einer allzu starren Moral zu befreien suchten, die durch satirisches Spiel, gelegentlich durchaus auch durch Albernheiten und Kaspereien, Distanz gewinnen wollten, um gelassener und für sich selbst und für andere erträglicher zu werden.

Wenn „Harakiri“ zum Beispiel ein ehernes journalistisches Tabu brach und detaillierte Farbfotos von einem im Wald zerschellten Flugzeug und den Absturzopfern abdruckte, so sicher nicht aus Sensationsgier und schon gar nicht aus Freude über das geschehene Unglück, sondern um einerseits die traurige Realität hinter dem Bildtabu allererst sichtbar zu machen und um andererseits die Angst und das Grauen sozusagen homöopathisch zu therapieren.

Und wenn Reiser einen geländerlosen „pont des enfants perdus“ zeichnete, der so beginnt, dass der Vater bequem sein Töchterchen rechts und sein Söhnchen links an der Hand führen kann, der dann aber zunächst rechts und dann links abrupt schmaler wird, so dass das Mädchen bereits unbemerkt abgestürzt ist und, wie der Betrachter voraussieht, gleich – jetzt! – auch der Junge in den Abgrund fällt, dann ist dieses Spiel mit dem Entsetzen alles andere als kinderfeindlich: Gerade wer sich liebevoll um seine Kinder sorgt, kann im Schmunzeln oder in einem schwarzen Gelächter Abstand von der Qual seiner Sorge gewinnen. Leider wird allerdings solches Spiel heute vielfach nicht mehr verstanden: Die Satire wird dann ausschließlich als unliebsame Störung bei der ideologischen Wiederverzauberung der Welt, als schlechtes und deshalb zu unterdrückendes Vorbild, nicht aber in ihrer möglicherweise kompensatorischen und entlastenden Funktion interpretiert.

Ganz ähnlich im Bereich der Sexualität: Ich sehe keinen Grund anzunehmen, dass die „Harakiri“-Autoren nicht prinzipiell um partnerschaftliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern bemüht gewesen wären. (Man vergleiche Georges Wolinskis „Lettre ouverte à ma femme“, Paris 1985.) Aber sie waren noch bereit, zur Kenntnis – und auf die Schippe – zu nehmen, dass und wie Männer und Frauen durch ihre Triebe an der Nase herumgeführt werden und triebgesteuert einander an der Nase herumführen, dass die Interessen und Strebungen von Männern und Frauen gelegentlich, wenn nicht sogar oft, unvereinbar und dass menschliche Körperlichkeit und Sexualität ab und zu auch unharmonisch, lächerlich und abstoßend sind. In einer Zeit der damals so genannten Sexwellen haben Reiser und Wolinski – nicht zuletzt auch die Autoren der deutschen Satirezeitschrift „Pardon“, in Ansätzen sogar der frühe Vicco von Bülow: etwa in „Loriots Tagebuch“ von 1970 – bitterböse Bilder der Sexualität gezeichnet – nicht, um Frauen oder Männer pauschal herabzuwürdigen, sondern um sich im satirischen Spiel vom Magnetismus erotischer Reize und von ihrer eigenen Besessenheit zu befreien, um sich aus triebvernebelten und entnervten in lachende Menschen zu verwandeln. Mir kommen diese Leute solidarischer und liebenswerter vor als manche, die heute als Vorkämpfer des neuen Guten solche Formen der Befreiung naserümpfend unterdrücken und verbieten wollen.

Insofern zielt die alte Entzauberungssatire von „Harakiri“ und „Pardon“, in deren Nähe auch meine – heute wohl eher unzeitgemäßen – Sprachspielchen und Witzeleien gehören, insofern also zielt die Entzauberungssatire bisweilen in die gleiche Richtung wie die Lehrpraxis der Zenmeister: Die Zenmeister schockieren, verteilen Stockschläge, zerreißen Bücher, erzählen paradoxe Geschichten, provozieren, verheizen – obwohl sie Buddhisten sind – notfalls Buddhastatuen und stellen manchmal sogar – scheinbar höchst unbuddhistisch – die geltende Sexualmoral in Frage, um sich selbst und anderen Auswege aus dem Gefängnis der Begriffe und Normen und Täuschungen und Triebe zu weisen.

Viele meiner Reimchen sind Zaubersprüche – häufig, gewiss nicht ausschließlich, gegen die Anziehung und die Macht bezaubernder Frauen. Ich gebe zu, dass mir solcher Gegenzauber lieb und teuer ist – ebenso lieb und teuer übrigens wie jener oft süße, bisweilen auch nur faule Zauber, den ich mit ihm in Schach zu halten trachte.

Und schließlich: Die traditionelle Satire hat noch gewusst, dass wir alle nicht so gut sind, wie wir uns gern sähen und wie wir gesehen werden möchten. Ist der Mensch seither wirklich besser geworden? Wenn nicht, dann fragt sich, warum Spott, Kritik und die Darstellung menschlicher Schwächen derart in Misskredit geraten sind: Hat man der Satire die Zähne gezogen, damit wir Heutigen, Männer und Frauen, unerkannt und undurchschaut nur um so besser herrschen, täuschen, manipulieren oder auch nur einfach dumm sein können? Suchen wir, welcher Minderheit oder Mehrheit wir auch immer angehören, politischen, juristischen und publizistischen Schutz vor treffender Satire etwa deshalb, weil wir fürchten, man könnte uns auf die Schliche kommen?

In der Tat: Der moderne Fundamentalismus ist häufig mit einer strikten Ablehnung des angesichts der Weltlage eigentlich naheliegenden Pessimismus verbunden: Skepsis und Gelächter sind allenfalls im Hinblick auf die jeweiligen unmittelbaren und ideologischen Gegner, auf ihre Irrtümer und Vergehen zulässig. Der von der eigenen Ideologie vorgeschriebene Weg aber ist mit Optimismus zu pflastern: Der Mensch als höchst unvollkommenes, nicht selten mörderisches Evolutionswesen soll schließlich doch noch durch und für eine humanistische Utopie gerettet werden. Pessimisten, die ihren Trost in verzweifeltem Gelächter suchen, sind da ebensowenig gefragt wie eben jene Entzauberungssatiriker, die das Gift ihres Spotts nach Lust und Laune in alle Richtungen verspritzen: unter anderem auf Nationalisten, Rassisten, Neoliberale, Marxisten, Juden, Muslime, Christen, Feministen – und nicht zuletzt auf sich selbst.

Mich stoßen Dauerernst, politische Korrektheit, Heuchelei und Fassadenbau ab – auch deshalb, weil sich in ihrem Schatten und als ihr Komplement inzwischen, nicht nur bei Jugendlichen, eine Gleichgültigkeit und eine „Coolness“ entwickelt haben, denen der oben erwähnte lebendige und zugleich bescheidene gute Wille längst abhanden gekommen ist. Ob daran auch die Entzauberungssatire – oder auch nur deren voraussetzungslose Rezeption durch folgende Generationen – schuld sein könnte, wage ich nicht zu entscheiden. Ausgeschlossen ist das nicht. Dennoch: Ich habe den alten Zauber so gründlich und so schmerzhaft kennengelernt, dass ich auch heute auf den Gegenzauber meiner kleinen Reime um keinen Preis verzichten und weiter über tausend Dinge, über wichtigtuerische Männer, eitle Frauen, lärmende Jugendliche, alberne Moden und über meine eigenen Verrücktheiten witzeln möchte. Wem das nicht liegt, der muss meine Texte gewiss nicht lesen.

Dass andere Menschen mit ganz anderen Lebensgeschichten sich auf neuen Zauber und neue Tabus einlassen wollen, dass sie mich dann unvermeidlich als Ungläubigen ablehnen und meine Art von Hokuspokus für lächerlich halten müssen, sehe ich ein: Vermutlich kann mit einer – ohnehin immer nur teilweise – entzauberten Welt nur leben, wer die normativen und emotionalen Einweckgläser und Konservendosen eines alten Zaubers noch im hintersten Winkel seines seelischen Vorratskellers weiß. Gäbe es doch nur Anhaltspunkte dafür, dass der neue Zauber glücklicher machte und etwa mit weniger Lüge und Unterdrückung auskäme als der alte!

Georges Wolinski und Jean Cabut („Cabu“) wurden zusammen mit acht Kollegen und zwei Polizisten am 7. Januar 2015 bei einem Anschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris erschossen.