Wanderers Nachtlied

Ein überfälliger Beitrag zur Literaturkritik

Goethe besang der
Vögelein Schweigen
Gipfel und Wipfel
und baldige Ruh
durchaus beachtlich
aber mir fehlen
irgendwie noch ein
paar Strapse dazu

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Über allen Gipfeln
Ist Ruh‘,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

J. W. Goethe

Am Gartentor

fürchten die dass ich
das Moos zertrete?
ich klopfe aber man
öffnet mir nicht

sieh da! der Frühling
wedelt mir einen
Zweig roter Blüten
über die Mauer
sanft ins Gesicht

 

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游园不值 叶绍翁

應憐屐齒印蒼苔
小扣柴扉久不開
春色滿園關不住
一枝紅杏出牆來

Ich bedauere, dass meine Schuhe auf dem grünen Moos Spuren hinterlassen. Lange klopfe ich leise an das Tor, aber es öffnet sich nicht. [Bedeutung und Zusammenhang der beiden ersten Zeilen sind nicht ganz klar: Ein Teil der Übersetzungen nimmt an, dass der Gartenbesitzer abwesend ist und deshalb das Tor nicht öffnet; zugleich bedauere der Besucher, dass er auf dem Moos vor dem Garten Spuren hinterlassen hat. Andere Übersetzungen nehmen an, dass der anwesende Gartenbesitzer nicht öffnet, weil er fürchtet, dass der Besucher im Garten Spuren auf dem Moos hinterlassen könnte. Der folgende Text ist dagegen unproblematisch:] Die Schönheit des Frühlings lässt sich nicht einsperren: Ein Zweig mit roten Aprikosenblüten hängt über die Mauer nach außen.
(Ye Shaoweng [Song-Dynastie 960-1279])

Andere Pfeifen

früher waren es
Eltern und Lehrer
die uns bestimmte
Wörter verboten
jetzt tanzen wir nach
anderen Pfeifen
und schweigen folgsam
nach deren Noten


Mir ist die jährliche Verkündung eines „Unwortes des Jahres“ ein Ärgernis – anders als anscheinend den Journalisten, die sich begeistert auf diesen Köder stürzen. Auch wenn sich meine politische Position im einen oder anderen Fall mit der politischen Position der „Unwortexperten“ deckt, sehe ich nicht ein, warum hier pseudoamtlich und pseudowissenschaftlich jeweils ein bestimmtes Wort geächtet werden muss. Ich habe den Eindruck, dass vielen vermeintlichen Demokraten die im Rechtsstaat bislang nun einmal garantierten Spielräume der Meinungsfreiheit viel zu weit erscheinen und dass sie über mancherlei Korrektheitszwänge und Propagandatricks mit Macht Konformität im Rahmen der ihnen genehmen Grenzen erzeugen wollen. Ich komme mir da vor wie in einem ehemals relativ großen und luftigen Raum, dessen Wände durch einen verborgenen Teufelsmechanismus immer weiter aufeinander zu geschoben werden.

Samsara

die Menschen leben
in tausend Sorgen
wer selbst gesund ist
bangt um die Erben
zitternd hüten sie
Reisfeld und Bäume
die Angst verlässt sie
erst wenn sie sterben

 

人生不滿百
常懷千載憂
自身病始可
又為子孫愁
下視禾根土
上看桑樹頭
秤錘落東海
到底始知休

(Han Shan, fl. 730-850. The collected songs of Cold Mountain / translated by Red Pine. Port Townsend, Washington 2000. 128f., 138)

der Mensch lebt kaum hundert Jahre
hat aber Sorgen für tausend
wenn er selbst gesund ist
ist er um Kinder und Enkel bekümmert
unten blickt er unruhig auf die Reiswurzeln im Feld
oben auf die Kronen der Maulbeerbäume
erst wenn seine Waage ins Meer fällt und den Grund erreicht [ = wenn sein Leben beendet ist und vom Totenrichtergott gewogen wird]
findet er Ruhe

Samsara wird im Buddhismus der endlose leidvolle Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt genannt, in den alle unerleuchteten Wesen verstrickt sind.

„Lesen durch Schreiben“

Drei Versuche zum Fortschritt in der Rechtschreibpädagogik

Fortschritt I

früher mussten die
Kinder beim Schreiben
mit den korrekten
Wörtern beginnen
heute dürfen sie
jedes Geplapper
wie sie es hören
auf Zettel pinnen

Fortschritt II

einst lernten Kinder
schreiben durch Lesen
heute will man sie
so nicht mehr schinden
deshalb dürfen die
Kleinen jetzt selber
das Rad der Schrift noch
einmal erfinden

Fortschritt III

erst dürften Kinder
ruhig Fehler machen
das sei dann später
leicht einzurenken
Pädagogen sind
listige Leute
Volkszahnärzte die
Zucker verschenken

 

Nacht auf dem Westsee

ich bin der Herr der
Nebel und Wellen
mein Boot treibt im Wind
durch blühendes Ried
ich applaudiere
mir fröhlich selber
die Berge hallen
von meinem Lied

 

往來煙波
此生自號西湖長
輕風小槳
盪出蘆花港
得意高歌
夜靜聲偏朗
無人賞
自家拍掌
唱得千山響

(Zheng Yan 正岩 * ca. 1700; aus: 101 Chinese Lyrics. 中華雋詞一○一首. Compiled and Translated by Chu Dagao. Beijing 1987. 226f.)

ich treibe umher in Nebel und Wellen
ernenne mich selbst zum Herrn des westlichen Sees
eine sanfte Brise weht, mein Ruder ist klein
ich fahre aus dem Hafen der Schilfblüten
heiter singe ich laut
ein voller Klang in stiller Nacht
niemand lobt mich
ich klatsche selbst in die Hände
und singe, dass mein Lied in den tausend Bergen widerhallt

Mantra

nichts geht über
ein starkes Mantra
als Zauberformel
in Liebessachen
wenn mich der Schmerz packt
murmle ich immer
Schnucki, das kannst du
mit mir nicht machen!

 

shangxindeaiqinggushi

Chat am Nachmittag

ich antworte ihr
sie antwortet nicht
telefoniert sie?
was mag sie treiben?
ich schreibe nochmal
ist sie jetzt offline ?
ach was! sie kann mir
gestohlen bleiben

 

Setzt sich das […] System parallel mit mehreren verschiedenen sozialen und kommunikativen Umwelten auseinander, so ist anzunehmen, dass die Aufmerksamkeit auf diese verschiedenen Umwelten und die in [ihnen] gegebenen kommunikativen Situationen nach einer individuellen Prioritätenliste verteilt wird […]. (Beisswenger, Michael: Sprachhandlungskoordination in der Chat-Kommunikation. Berlin 2007. S. 147.)

Tauchurlaub

Frau Schultze wählt die Malediven
als Herbsterholungsurlaubsort
sie läßt sich in die Lüfte hieven
und düst mit einem Flugzeug fort

sie schnappt sich ihre Taucherbrille
schnallt ihre Flosse an den Fuß
schwebt durch endiviengrüne Stille
erwidert feucht der Fische Gruß

und wird da unten nass und nasser
der Tang wogt rot ein Seeaal naht –
mir reicht mein Schreibtisch brauch kein Wasser
bin nur ein trockner Literat


tauchen

Lotus

die Lotusblüte
wächst aus dem Schlamm
wir sind halb Geist halb
Ficken und Fressen
das ist es was die
Menschheitsverklärer
und Humanisten
gröblich vergessen

 

IF

Sturm

(Sylt / Amrum)

Nacht Sturm treibt schräg Schnee
fern tobt wild Nord See
Feld erst schwarz dann weiß
Baum tanzt rings blinkt Eis
gelb glänzt Licht im Dach
ein Mann sitzt noch wach
schweigt lacht trinkt still Schnaps
träumt von Bein mit Straps

 

Parodie auf ein klassisches chinesisches Gedicht: Solche Gedichte zeichnen sich aus durch einsilbige Wörter und videoclipartige Bilderfolgen sowie dadurch, dass nur ein Teil der syntaktischen Bezüge ausgedrückt und Phrasengrenzen nicht markiert werden.

Der Zilpzalp

(Phylloscopus collybita)

während Zirbeln oder Föhren
den Zilpzalp sehr beim Zilpen stören
kann man wo die Buchen rauschen
stets seinem zarten Zilpen lauschen

doch nie schon gar nicht in den Alpen
sah man den Zilpzalp jemals zalpen
nur nachts klammheimlich und im Dunkeln
da zalpt er dass die Federn funkeln

zilpzalp

Berliner Philharmoniker

(Digital Concert Hall im CinemaxX Hannover)

 

I

in Großaufnahme
der Paukenschlägel
ein filziger Ball
mit weißen Flöckchen
dann davon fast nicht
zu unterscheiden
Sir Simon Rattles
bebende Löckchen

II

weißbehemdete
Pinguine und
schöne Krähen mit
glänzenden Schnäbeln
die nach den Wünschen
des Dirigenten
mit Geigenbögen
die Luft zersäbeln

III

cello1

sie klemmt das Cello
zwischen die Schenkel
krault ihm den Hals und
kratzt seinen Rücken
da legt es den Kopf
an ihre Schulter
und seufzt und säuselt
voller Entzücken

IV

weil sie woanders
im Wege stünden
stehn die Bassisten
lässig am Rande
fast als gehörten
sie gar nicht dazu
und wären eine
Art Gangsterbande

Isleworth-Mona-Lisa

das zweite Bildnis
nicht von da Vinci?
das Haar zu wellig?
der Himmel gelber?
ich mach es einfach
wie Schulmeister Wutz*
und tusch die Lisa
klammheimlich selber


* Der wichtige Umstand ist nämlich der, […] daß Wutz eine ganze Bibliothek – wie hätte der Mann sich eine kaufen können? – sich eigenhändig schrieb […] jedes neue Meßprodukt, dessen Titel das Meisterlein ansichtig wurde, war nun so gut als geschrieben oder gekauft : denn es setzte sich sogleich hin und machte das Produkt […]. Er war kein verdammter Nachdrucker, der das Original hinlegt und oft das meiste daraus abdruckt : sondern er nahm gar keines zur Hand. Daraus sind zwei Tatsachen vortrefflich zu erklären : erstlich die, daß es manchmal mit ihm haperte und daß er z.B. im ganzen Federschen Traktat über Raum und Zeit von nichts handelte als vom Schiffs-Raum und der Zeit, die man bei Weibern Menses nennt. Die zweite Tatsache ist seine Glaubenssache : da er einige Jahre sein Bücherbrett auf diese Art voll geschrieben und durchstudieret hatte, so nahm er die Meinung an, seine Schreibbücher wären eigentlich die kanonischen Urkunden, und die gedruckten wären bloße Nachstiche seiner geschriebenen […]. (Jean Paul: Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal. Eine Art Idylle. 1793)

Die Welt kennen, ohne das Haus zu verlassen*

Ich bin voller Vergnügen, und meine Tage
sind gefüllt. Ich brauche nicht nach
New Vork zu reisen, um von dort zu melden,
dass ich in New York bin. (Horst Janssen)

Laozi hat unrecht:
Rausgehen bildet
wenn man mal rumkommt
kann das nicht schaden
Laozi hat doch recht:
das wiederholt sich
nach zwei drei Runden
kennt man den Laden

 

*Laozi: Daodejing 47: 不出戶智天下 / Bild: „draußen und drinnen“

Sommerbalkon

um die Dächer Nacht
hoch vor einem Streif
Pinkorangetürkis
glänzt Kondensgeschweif
nehm auf meine Art
teil am Luftverkehr
steig in einen Reim
und bin schon am Meer

Martial

(40 bis ca. 102 n. Chr.)

Spottverse wie die
des Römers Martial
würden heute mit
Recht unterbunden
menschliche Schwächen
die er noch beschreibt
sind jetzt per Fortschritt
gänzlich verschwunden

zur Erinnerung an Fritz Graßhoff (1913 bis 1997), seine „Klassische
Halunkenpostille“ und seinen „Martial für Zeitgenossen“

Einem Kritiker

von meinen Versen
sagst du sind dreißig
entsetzlich missglückt
wärn aber weitre
dreißig gelungen
dann wär ich entzückt

‚triginta toto mala sunt epigrammata libro.‘
si totidem bona sunt, Lause, bonus liber est.

(Martial: Epigramme VII, 81)

Hobel und Späne

spart euch das Schimpfen
und Achselzucken
ein launiger Reim
muss einfach jucken
wäre er fromm und
politisch korrekt
wär er wie Wein der
nach Weihwasser schmeckt

lex haec carminibus data est iocosis,

nec possint, nisi pruriant, iuvare. 

quare deposita severitate

parcas lusibus et iocis rogamus,

nec castrare velis meos libellos.

(Martial: Epigramme I, 35 10-14)