vor uns die schwarzen
Wolken der Kiefern
über uns wölbt sich
das Tempeltor
in unsern Hosen
rings um die Waden
rücken klammheimlich
die Mücken vor
Buddha im Otagi-Nenbutsu-ji, Kyotaki
zweierlei Augen
das eine blickt streng und das
andere milde
The […] principal image was made in the middle of the Kamakura period (1192-1333) […]. The eyes of that statue are not symmetrical, expressing the duality of Buddha’s mercy: strictness on one side and tenderness on the other […]. [aus dem Tempelprospekt]
verdammte Hitze
ich träume vergebens von
kühleren Träumen
zwei Felsen mit Seil
als Gleichnis für Mann und Frau
das könnte passen
Die Felsen sind zwar verbunden, stehen aber unverrückbar im Meer, wie sehr der eine oder der andere auch am Seil ruckelt. Das Seil muss dreimal im Jahr erneuert werden. Die Felsen sind viel kleiner, als sie auf den Bildern der Tourismuswerbung erscheinen. Sie zerbröckeln im Laufe der Jahre in der Brandung. Und die Seevögel scheißen ihnen ohne jeden Respekt auf den Kopf.
der Taktstock hebt sich
alle zücken die Geigen
dann zirpen sie los
auf leisen Strümpfen
huscht sie zum Buddha plötzlich
knarzt eine Diele
ärmellos bringt sie
den Göttern ihr bleiches Fett
als frommes Opfer
wir träumen oben
unten schrilles Gewölk von
tausend Zikaden
Froschplage im Sekisho-Tempel
ein Frosch im Gedicht
ist keine Kunst meisterlich
wären erst zwanzig
Matsuo Basho: Frosch
der alte Weiher
ein Frosch springt hinein
der Klang des Wassers
unter den Kiefern
abends ein sanftes Sägen
die Sutra der Frösche
aufgeregt wirft sie
Krücke und Schlapphut ins Gras
sie will aufs Foto
eine Erklärung für Jäger
ein Rock ist ein Rohr
Hosenröcke dagegen
sind doppelläufig
er rotzt erbärmlich
ich mag meinem Joghurt schon
gar nicht mehr trauen
das weiße Fellchen
rund um den Krater züchtig
mit Wolken verhüllt
sie hat keine Wahl
stundenlang sitzt sie und lernt
per multiple choice
I
rauschender Regen
da! auf den nassen Stufen
ein Sonnenschirmchen
II
ein Seidenschirmchen
mit schwarzer Spitze just für
Wolken und Regen
nichts schwerer als das
dazusitzen und einfach
Kaffee zu trinken
ganz wie zu Hause
kämmt sie ihr Haar und pinselt
Mündchen und Wimpern
will sie uns zeigen
dass sie auch sonst noch artig
zu lärmen versteht?
Röckchen und Strümpfe
zwar schwarz die Knie dazwischen
aber in Farbe
eine Art Geistererscheinung
barfuß im Nachthemd
kichern sie höchst geschäftig
vom Lift zum Tresen
Schirmrädertierchen
wimmeln und züngeln eilig
auf nassem Asphalt
mit hundert Beinen
rennt sie dem Bus nach selber
ein rollendes Rad
vor meinem Fenster
tanzt Schnee ich rede mir ein
es seien Blüten
schade! nun kann ich
sie nicht mehr sehen
die Ritze im Zaun
von Blättern verdeckt
so schön der Sommer
ansonsten sein mag
die Nachbarin hat
er vor mir versteckt
„Love Seen in Summer“
My secret spying
through the cracks in her fence
is impeded now
by thick growth on the bamboo
that tells us summer has come.
Kagawa Kageki (1768-1843). In: Traditional Japanese Poetry.
An Anthology. Translated, with an Introduction, by Steven D. Carter.
Stanford: Stanford University Press 1991. 434.
der andre bis auf
die Knochen durchnässt
von mir ganz zu schweigen
zwei Schirme die sich
in Wind und Regen
respektvoll verneigen
The other one got drenched –
and I got wet through too.
In falling rain
two umbrellas show respect
by exchanging bows.
Aus einer Gedichtsammlung des 16. Jahrhunderts. In: Traditional Japanese Poetry. An Anthology. Translated, with an Introduction, by Steven D. Carter. Stanford: Stanford University Press 1991. 337.
unter dem Röckchen
in Wollkniestrümpfen
sanftgeschwungene
Beinparenthesen
den Text dazwischen
konnte ich aber
mangels Japanisch
leider nicht lesen
wider einen verbreiteten Irrtum
im Tempel ist es
dunkler als draußen
was außen groß wirkt
ist drinnen meist klein
warum meinen die
Leute bloß immer
wenn etwas schön ist
sie müssten da rein?
er trug Sandalen
reiste durch Japan
und schrieb Gedichte
von Blüten und Mond
Finanzfachleute
haben errechnet
dass so zu leben
den Aufwand nicht lohnt
trinkt man in Japan
denn neuerdings Wein?
was wohl die Leute
nebenan treiben?
das piepst als ob die
den feuchten Korken
unablässig am
Flaschenhals reiben
gestern noch über
den grünen Hügeln
des Tempels ferner
schwebender Gong
heute die Segel
der Hochhauswerbung
über dem grauen
Meer aus Beton
Kenninji, Kioto
der Teich im Garten
unter den Kiefern
ist ihm der liebste
von allen Plätzen
er starrt ins Wasser
mit Pfandleiherblick
als hätte er ein
Goldstück zu schätzen
Zedernholzsäulen
goldene Buddhas
wehender Weihrauch
was ich hier finde?
friedliche Stille
in der ich schließlich
auch vor mir selber
völlig verschwinde
Kirschblüte im Kiyomizutempel, Kioto
in warmer Sonne
hat sie sich tapfer
über die Treppe
zum Tempel gekämpft
außen die bunte
Seidenroulade
innen sie selber
al dente gedämpft
ein bislang ungelöstes Problem
der japanischen Kunstpsychologie
zwar ist der Fuji
ein stumpfer Kegel
doch die Japaner
seine Besitzer
malen ihn wenn ich
nur wüsste warum
meistens ganz oben
ein bisschen spitzer
Hypothesen zur Diskussion: Ist hier einfach das Prägnanzstreben des Menschen am Werk? – Liegt eine unbewusste Abbildung vor? Meint also der Künstler, er male den Fuji, während ihm seine Seele eine landesübliche weibliche Brust in den Pinsel schmuggelt? – Spielen kompositorische Gründe eine Rolle – gerade auch bei den hochformatigen Rollbildern? – Oder sieht man den Fuji als steile Startrampe für den dort wohnenden mythischen Drachen?
wenn er verstimmt ist
hüllt er sich häufig
für viele Tage
völlig in Dunst
ihn mit den schwachen
Augen der Seele
trotzdem zu sehen
das ist die Kunst
morgens am Bahnsteig
ein junges Pärchen
er lächelt siegreich
sie eher verlegen
die sind aufs Wetter
nicht angewiesen
die tropfen heute
auch ohne Regen
eine kleine Blasmusik
gestern noch bliesen
eisige Winde
die Frauen trugen
Hose und Jacke
jetzt jedoch blasen
lässig gekreuzte
Beine in Nylon
keck zur Attacke
(ich lese im Zug bei Yokohama ein Haiku von Basho)
er sei so heißt es
im Dunst am schönsten
dann träume man ihn
und sehe ihn nicht
als ich das lese
erscheint er selber
vor meinem Fenster
ein Pickel aus Licht
misty showers
the day one cannot see Mount Fuji
it is more attractive
Matsuo Basho (1644-1695); In: Basho. The Complete Haiku. Translated, annotated and with an introduction by Jane Reichhold. New York: Kodansha 2008. 76)
denken sie nicht ich
meide die Menschen
bisweilen müssen
Menschen schon sein
doch ich genieße
die meisten Freuden
am allerliebsten
für mich allein
You mustn’t suppose
I never mingle in the world
Of humankind –
It’s simply that I prefer
To enjoy myself alone.
(Ryokan 1758-1831)
(Zen Poems. Selected and edited by Peter Harris. New York: Alfred A. Knopf 1999. 225. Übersetzung Donald Keene)
(Tokio)
auf warmen Steinen
Augen geschlossen
dösend in wirre
Träume verloren
Zikadenschrillen
Marimbatöne
Klangseifenblasen
für meine Ohren
(Nikko)
er trägt Bermudas
und Muskelhemdchen
sie kurze Höschen
zu langen Strümpfen
wären die Buddhas
nicht so erleuchtet
würden sie sicher
die Nasen rümpfen
(Nara)
bunter Kimono
die Rückenschleife
verschließt die Dame
züchtig und sicher
unten Sandalen
und oben hinter
vorgehaltenem
Händchen Gekicher
jedesmal wenn ich
in meinen Träumen
endlich soweit bin
dass Lotte mich liebt
niest nebenan ein
alter Japaner
laut wie ein Nilpferd
und Lotte zerstiebt
(Innsbruck)
im Stadtgewühl das
Seil auf dem Rucksack?
die Zeitgenossen
von Hermann Buhl
hielten dergleichen
für Angeberei
heute dagegen
gilt das als cool
Hermann Buhl (1924 – 1957): österreichischer Bergsteiger; Erstbesteiger des Nanga Parbat und des Broad Peak; Pionier des Alpinstils.
Mukai Kyorai (1651-1704)
Was soll denn das?
… mit dem Langschwert gegürtet
zur Kirschblütenschau?
aus: Haiku. Gedichte aus fünf Jahrhunderten. Japanisch / Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller. Unter Mitwirkung von Kaneko Tõta und Kuroda Momoko. Stuttgart: Reclam 2017. S. 86.
高桐院, 京都 – Koto-in, Kioto
ein Vogelschrei macht
den Wald noch stiller?
wie recht er hat der
weise Verfasser!
macht nicht auch häufig
das Mitsibushi
ein blasses Bäuchlein
noch sehr viel blasser?
Das chinesische Gedicht, dem die kalligraphierte Zeile entnommen ist, scheint bei der Entstehung der Wendung „點金成鐵“ (aus Gold Eisen machen, einen Text verschlimmbessern) eine Rolle gespielt zu haben: Die ursprüngliche Formulierung „烏啼(嗚)山更幽“ (ein einzelner Vogelschrei macht den Wald noch stiller) soll ein späterer Autor in abgewandelter Form in ein eigenes, ähnliches Gedicht übernommen haben: „一烏不嗚山更幽“ (dass nicht ein Vogel schreit macht den Wald noch stiller). Diese Abwandlung soll ein Kritiker mit „點金成鐵“ kommentiert haben: „Du hast aus Gold Eisen gemacht, den Text verschlimmbessert.“ (Vgl. 嚴北溟,嚴捷 編著: 中國哲學寓言故事 4. 臺北 1990. 90-91.) – Für den Rest des Textes vgl. auch Schoßtiere und Tattoos und Piercings: Das Ende der Nacktheit.
景勝院, 京都
das langsame Herz
des Bergs der starke
Pulsschlag der Föhren
die ernste Glocke
des Tempels im Tal
hier kaum zu hören
alles ist eines
der Berg die Glocke
Bäume Zikaden
ein weißes Hündchen
der kunstreiche Mönch
auf grünen Pfaden
alles ist kühl unter
turmhohen Wipfeln
hier suchen alle
hier findet jeder
der Ort ist versteckt
und offen zugleich
sein freundlicher Geist
wohnt in der Zeder
Summer, Saisho-in (anonym)
The evening bell, solemn and bronze,
in the grandfather temple down the hill,
sounds dimly here.
Slow beat of the mountain’s heart, perhaps,
or determined pulse of pine tree (gift of the birds)
growing out of a crotch of the slippery monkey tree.
All one, perhaps –
bell, mountain, tree,
and steady cicada vibrato
and little white dog
and quiet artist-priest, carver of Noh masks,
fashioning a bamboo crutch for the ancient peach tree –
symbol of strength, symbol of concern.
All cool under nodding crowns of the vertical forest,
all seeking in this place,
all finding in this place –
hidden yet open to all –
the spirit in the cedar’s heart.*
Saisho-in: a small, Eighth Century Buddhist temple in a mountain gorge near Kyoto, Japan.
* Japanische Tempel werden zu einem großen Teil aus Zedernholz gebaut.
Shinkansen Tokio – Kioto
der Fuji verhüllt
von grauen Wolken
gegen das Wetter
gibt es kein Mittel
und nirgends ein Trost
die Imbissgeisha
serviert den Kaffee
im grauen Kittel
Nihombashi
Kyobashi
tausend Menschen
steigen ein
Toranomon
Kamiyacho
schon bin ich
am Meiji-Schrein
(Die Stationen Ginza, Shimbashi, Tameike-sanno, Asakasa-mitsuke, Aoyama-mitchome, Gaiemmae, Omote-sando, Meiji-jingumae und viele andere sind in meinem Herzen aufbewahrt, müssen aber aus Gründen der lyrischen Form unerwähnt bleiben. Mehr … )
auf dem Flug von Dubai nach Tokio
die Bildschirme schwarz
die Kopfhörer stumm
dreihundert Leute
schwatzen und klingen
als wären sie auf
einmal lebendig
die Crew will das rasch
in Ordnung bringen