Unter der Dusche zu singen

wenn drunt im Tal
die Bächlein plötschern
im grünen Wald
die Zwiegel vötschern
wenn auch die Dichter
lauthals reimen
weil tief in ihnen
Verse keimen
dann tut die Welt uns
damit kund
nun ist sie da
die Morgenstund
und nur der Maul
mit seinem Wurf
schweigt ewig still
in Mulch und Turf

Goldene Mitte

in meiner Phantasie
erblickte ich ein Knie
darunter eine Wade
die fand ich ziemlich fade
darüber einen Schenkel
der ging mir auf den Senkel
drum blieb ich stur beim Knie
in meiner Phantasie


rohrknie

Spaziergängerin

wie aus Versehen
lupft sie ihr Kleid und lauert
ob ich auch gucke

Nicht Fiktion, sondern realistische Reportage: Der Autor wäre niemals in der Lage, sich etwas Derartiges auszudenken!

Frühlingsgeräusche

Der Möwerich kreischt laut und schrill,
die Möwe zu betören.
Das Vieh darf kreischen. Ich bin still
und muss sein Kreischen hören.

Die Lerche tiriliert vor Lust.
Die Frühlingswinde rauschen.
Fern blökt ein Schaf aus woller Brust.
Und ich muss schweigend lauschen.

Dumpf muht die Kuh, vom Grase satt,
im Kreise ihrer Kälber.
Nur abends spät, in meinem Bad,
muh ich dann auch mal selber.

Frau Schultze

Frau Schultze isst,
wenn Hüftspeck droht,
tagtäglich nur noch
Knäckebrot.
Legt man das Ohr
an ihren Busen,
hört man es knistern
dort beim Schmusen.
Wie?! – fragt man sich,
Bricht jetzt ihr Herz?!
Nein: Knäcke knuspert
magenwärts.

Anti-Mops

Höchst böse ist der Anti-Christ!
Der Anti-Mops ist gut:
Das ist ein kleiner, dicker Hund,
der niemand etwas tut.

Der schnuppert still an dir herum
und wittert deinen Speck
an Schenkeln, Bauch, Popo und so
und knabbert ihn dir weg.


Ferne Muse. Eine Collage.

So lang bist du schon weg!
Wie soll ich für dich reimen?
Muss mir mein Bild von dir
allein zusammenleimen:

2 Gipsfüße aus dem Fußpflegesalon
10 Knoblauchzehenspitzen
2 Dekowaden aus der Damenstrumpfabteilung
2 Rohrknie aus dem Heizungskeller
2 Marmorsäulchen vom Familiengrab
1 rotes Dreieck aus dem Mengenlehrebuch
1 frisches Brötchen vom Bäcker
2 Honigmelonen vom Gemüsemarkt
1 bleicher Torso aus dem Kriminalmuseum
1 Kullernabel aus dem Flipperautomaten
2 Zitronen aus dem Land, wo sie blühn,
2 Walderdbeeren aus dem Obstkörbchen
2 Arme von 2 einarmigen Banditen
10 Finger aus einem Schreibmaschinenkurs
119 836 Haare von einer Füchsin aus Brehms Tierleben
3 957 braune Sommersprossen aus der geplatzten Kaffeekanne
1 Gesicht von einem alten, schwarzweißen Passfoto und
1 grin of the Cheshire Cat (1).

Ich zücke meinen Kleisterstift
und grobes Packpapier
und klebe alles richtig auf:
Dann ist’s, als wärst du hier.


collage

(1) „All right,“ said the [Cheshire] Cat; and this time it vanished quite slowly, beginning with the end of the tail, and ending with the grin, which remained some time after the rest of it had gone. (Lewis Carroll, ‚Alice in Wonderland‘)

(2001)

Karawankenlied

Wenn im Tal der Karawanken
abends all die süßen, schlanken,
frischen, frommen, freien, franken
Maderln an der Liebe kranken,

wenn im Parke auf den Banken
harte Burschen ihre Pranken
ohne Wanken, ohne Schranken
um der zarten Maderln blanken

Hals wie Krakenarme ranken,
bangen wir, die morschen Planken
jener Banken könnten schwanken.
Doch die halten – gottseidanken!

kara

Karawanken: Kalkkette der Südalpen im österreichisch-slowenischen Grenzgebiet

Zu fromm

Helene fühlt sich
nun da sie tot ist
von ihren Göttern
grausam betrogen
vor lauter Beten
ist sie im Sterben
blindlings am Himmel
vorbeigeflogen


´Tain´t wise to overdo your prayers, for you might die,
And waking, find you passed it, Paradise, right by.
(Jap. Kyôka, 1683. Übersetzung Gill, Robin D.: Kyôka.
Japan’s Comic Verse. A Mad in Translation Reader.
Paraverse Press 2009. 35.)

Botox

seit ein paar Wochen
sind ihre Lippen
zwei Wiener Würstchen
mit roter Pelle
der große Vorteil
mit diesen Dingern
kriegt sie beim Crashtest
nie eine Delle
wiener

Abend

drinnen streiten zwei
Uhren verbissen
ist es erst sieben?
oder schon acht?
am Himmel funkeln
zwischen den Wolken
die ersten Sterne
bald wird es Nacht


Abend. Die beiden Uhren zanken sich um die richtige Zeit. Plötzlich dämmerte es. Der düstere und trübe Himmel zeigte seine ersten Sterne. (Monika S, 13 Jahre; in: Und sie fliegen über die Berge, weit durch die Welt. Aufsätze von Volksschülern herausgegeben von ihrem Lehrer Ludwig Harig. München: Hanser 1972. 25.)

Was tun?

nirgends ist Frieden
nicht in den Bergen
auch nicht in fernen
südlichen Ländern
mir bleibt nichts übrig
als mich zu Hause
beim Tee im Schlafrock
selber zu ändern


Es kann nicht schaden, daran zu erinnern,
dass schon die Revolutionäre Nikolai
Gawrilowitsch Tschernyschewski (1863)
und Wladimir Iljitsch Lenin (1902) sich
dieser Frage zugewandt haben.

Was Derbes

nach Tannenbäumen
flackernden Kerzen
schmelzenden Liedern
und Festschalmeien
brauch ich was Derbes
mich kommt die Lust an
einfach mal lauthals
Fotze zu schreien

fotze, f. cunnus, vulva, ein
unhübsches, gemiedenes wort,
bei dem die sprachforschung
doch manches zu erwägen hat.
(Deutsches Wörterbuch von
Jacob und Wilhelm Grimm)

Von unten

das Sommerwetter
nicht Fisch und nicht Fleisch
bald Sturm und Regen
bald graue Schwüle
und selbst bei Sonne
spürt man von unten
die feuchten Küsse
der Gartenstühle

 

stuhl4

Von Affen und Menschen

verspricht man Affen
morgens drei Nüsse
und vier am Abend
packt sie die Wut
vier Nüsse morgens
und drei am Abend
finden die Affen
dagegen gut

 

狙公賦芧。曰。「朝三而暮四。」眾狙皆怒。
曰。「然則朝四而暮三。」眾狙皆悅。《莊子》

Ein Affenhüter fütterte seine Tiere mit Nüssen. Er sagte ihnen: „Ich gebe euch morgens drei und abends vier.“ Die Affen waren verärgert. Daraufhin sagte er ihnen: „Ich gebe euch morgens vier und abends drei.“ Die Affen waren äußerst erfreut. (Zhuangzi)

Im Zhuangzi steht die Weisheit des Affenhüters im Vordergrund. Hier geht es mir dagegen um bisweilen erstaunliche Denk- und Entscheidungsprozesse, wie sie etwa in Daniel Kahnemanns Thinking, Fast and Slow (2011) beschrieben sind.

Einsiedler und Kaufmann

ich wohne ärmlich
in schrägem Bambus
sein Tor liegt zwischen
turmhohen Mauern
ich finde Frieden
in meiner Hütte
er muss auf seine
Geschäfte lauern

道人屋冷四簷竹
長者門高百尺墻
屋冷道人心愈靜
門高長者日多忙

A hermit’s hut is empty encircled by bamboo
a merchant’s gate is high with hundred-foot-long walls
in his empty hut a hermit finds peace
behind his high gate a merchant finds none

(The Zen Works of Stonehouse. Poems and Talks of a 14th-Century Chinese Hermit. Translated by Red Pine. Berkeley 1999. 60f.)

Wind und Wolken

das sogenannte
Interessante
kann mir inzwischen
gestohlen bleiben
weg mit der Zeitung
ich will mir lieber
von Wind und Wolken
selber was schreiben


Cela ne m’intéresse pas tellement de vivre en faisant des choses intéressantes. Je rêve de m’arrêter, de zigzaguer, de faire de chaque journée une petite vie. Je rêve de contempler mon nombril. J’aimerais prendre des trains pour n’importe où … (Georges Wolinski: Lettre ouverte. In: J’étais un sale phallocrate. Paris: Albin Michel 1979. 55)

Bildinschrift

Berge malt man am
besten im Regen
Wälder und Gipfel
dunstig verschwommen
wie Frauenlocken
im trüben Spiegel
und Geister die aus
den Wolken kommen

 
miyouren

Ausschnitt aus einer Gebirgslandschaft von Mi Youren (1074–1151)

 

蔣士銓 (1725-1785): 題畫

不寫晴山寫雨山
似呵明鏡照煙鬟
人間萬象模煳好
風馬雲車便往還

Jiang Shiquan (1725-1785): Auf ein Bild geschrieben

Malt nicht die sonnigen Berge, malt die Berge im Regen – wie Frauenhaar im behauchten Spiegel. Die Dinge dieser Welt sind unscharf am schönsten; die guten Geister
kommen und gehen durch Wolken.

Ins Gebetbuch einer Unbarmherzigen

wirf dieses Buch fort
dein Beten nützt nichts
liege dem Himmel
nicht in den Ohren
der hilft nur einem
fühlenden Herzen
kalte und stolze
gibt er verloren

 

John Wilmot, Earl of Rochester (1647-1680):
Written in a Lady’s Prayer Book

Fling this useless book away,
And presume no more to pray.
Heaven is just , and can bestow
Mercy on none but those that mercy show.
With a proud heart maliciously inclined
Not to increase, but to subdue mankind,
In vain you vex the gods with your petition;
Without repentance and sincere contrition,
You’re in a reprobate condition.

 

François de Malherbe (1555-1628):

Pour mettre au-devant des Heures de Caliste

Tant que vous serez sans amour,

Caliste, priez nuit et jour,

Vous n’aurez point miséricorde.

Ce n’est pas que Dieu ne soit doux:

Mais pensez-vous qu’il vous accorde

Ce qu’on ne peut avoir de vous ?

Dichter und Damen

Dichten ist mühsam
man muss die Verse
tausendmal ändern
bevor sie klingen
wie reife Damen
bevor sie ausgehn
stundenlang Pinsel
und Bürste schwingen

袁枚 (1716-1797): 遣興

愛好由來下筆難
一詩千改始心安
阿婆還似初笄女
頭未梳成不許看

Yuan Mei (1716-1797): Über das Dichten

Etwas Schönes zu schreiben ist immer schwer.
Mit einem Gedicht ist man erst nach tausend Änderungen zufrieden.
Eine alte Frau, selbst wenn sie noch aussieht wie eine Fünfzehnjährige,
mag sich nicht zeigen, solange sie ihr Haar nicht tadellos gekämmt hat.

Ballettbanause

“Water Stains on the Wall”
Cloud Gate Dance Theatre Taibei
Hannover, 4. April 2015

todernster Kampfsport
Tüllpluderhosen
schwarzweißer Marmor
und Tempelglöckchen
ich lobe mir da
ein wenig Humor
beschwingte Musik
und kurze Röckchen
ballett

[…] I start by saying that it left me cold throughout its almost 75 minutes. […] Differences of gender are played down: there is no partnering, no touch (though there are male-female duets), and any distinctions between male and female dance style are subtle. […] “Water Stains on the Wall,” devoid of lightness or humor, keeps celebrating the skill of its own style, like a film actor whose performance tells you he is determined to win the Oscar this time. (Alastair Macaulay, The New York Times, 13.10.2011)

Nicolai Café Stralsund

draußen glänzt Backstein
mit Grünspantürmchen
ich sitze drinnen
lese Benns Worte
allein und schweigend
tröste mich aber
mit grünem Tee und
Preiselbeertorte


nicolaicafe1


Gottfried Benn: Worte

Allein: du mit den Worten
und das ist wirklich allein,
Clairons und Ehrenpforten
sind nicht in diesem Sein.

Du siehst ihnen in die Seele
nach Vor- und Urgesicht,
Jahre um Jahre – quäle
dich ab, du findest nicht.

Und drüben brennen die Leuchten
in sanftem Menschenhort,
von Lippen, rosigen, feuchten
perlt unbedenklich das Wort.

Nur deine Jahre vergilben
in einem anderen Sinn,
bis in die Träume: Silben −
doch schweigend gehst du hin.

Ahnungslos

jetzt tragen deutsche
Schildbürger Schilder
sie seien Charlie
ich kann nur lachen
hätten die Charlie
jemals gelesen
würden sie sich aus
dem Staube machen

 

Das Leben beginnt mit 60. (2013) Heftig umstrittener Cartoon des am 7. 1. 2015 getöteten Charlie Hebdo-Zeichners Georges Wolinski für eine Postkartenaktion der Kommunistischen Partei Frankreichs gegen die Erhöhung des Rentenalters.

Das Leben beginnt mit 60 (2013). Heftig umstrittener Cartoon des am 7. 1. 2015 getöteten Charlie Hebdo-Zeichners Georges Wolinski für eine Postkartenaktion der Kommunistischen Partei Frankreichs gegen die Erhöhung des Rentenalters.

Tigerlily – nach 50 Jahren?

Frage an einen Besucher aus der alten Heimat

hast du dort kürzlich
die kleine Rote
durch meine Straße
spazieren sehen?
die pflegte damals
frühmorgens immer
im Wildkatzenjäckchen
zur Schule zu gehen

 

tigerlily

君自故鄉來
應知故鄉事
來日綺窗前
寒梅著花未
(王維)

Du kommst gerade aus meinem alten Dorf und weißt sicher, wie die Dinge dort stehen: Blühte, als du aufbrachst, die Winterpflaume vor meinem Fenster? Wang Wei (701-761)

Nette Leute

sie geben sich nicht
die kleinste Blöße
machen rein gar nichts
gegen den Strich
reden als wäre
Denken verboten
in lauter Klischees
sie langweilen mich

 

Nette Leute

Lieber Herr Supermarkt!

warum nur plärren
in Ihrem Laden
von früh bis abends
Popmusikfrauen
halb wie verzweifelt
rollige Katzen
halb wie nach Futter
quiekende Sauen?


love

The music – and if possible it should be the same music for everybody – is the most important ingredient. Its function is to prevent thought […]. (George Orwell: Pleasure Spots. 1946.)